Über die Erlebnisse und Eindrücke seiner Reise im Dezember 2018 in den Nord-Irak, auf welcher dieser Textauszug basiert, berichtete Ramon Schack auch direkt im Anschluss <link beitrag post ramon-schacks-reise-nach-irakisch-kurdistan-in-die-umstrittenen-gebiete-des-nord-irak _blank>auf Cashkurs.

Wir blicken nach Lalish im Nordirak, genauer in die „umstrittenen Gebieten des Nordirak“, nur 60 Kilometer von Mossul entfernt, der größten Stadt im Herrschaftsgebiet des ehemaligen sogenannten “Islamischen Staates“.

Der Tempel von Lalish ist der heilige Ort der Jesiden, der wie durch ein Wunder von den vorstürmenden Kriegern des IS nicht erobert und damit vor der totalen Zerstörung verschont wurde. Der IS hinterlässt im Irak und in Syrien eine Schneide der Zerstörung, in einer ohnehin von Krieg, Terror und Gewaltherrschaft geprägten Region. Etwa eine Million Jesiden leben weltweit verstreut.

Hier in Irakisch-Kurdistan, sowie in den „umstrittenen Gebieten des Nordirak“ lebten vor dem Sindschar-Genozid 2014 schätzungsweise zwischen 600.000 und 700.000 Jesiden. Rund 500.000 Jesiden waren es noch bis zum Beginn des im August 2014 begonnenen Völkermords in der Region. Heute, so berichtet man freimütig am Fuße des Tempels, sind es schätzungsweise noch rund 40.000 - hier im historischen Stammland, während zehntausende Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft in Notunterkünften und Flüchtlingslagern in der Region leben.

In Deutschland, der größten Diasporagemeinde, leben rund 150.000 Jesiden, nach anderen Schätzungen bis zu 300.000. Es erscheint daher nicht verwunderlich, wenn ausländische Besucher im Umfeld der heiligen Stätten freundlich auf Deutsch angesprochen werden.

Während das Leben der Jesiden in der Bundesrepublik sehr gut organisiert erscheint - neben dem vor zwei Jahren gegründeten Zentralrat, gibt es unzählige Vereine, Verbände, Organisationen, die ein dichtes Netzwerk bilden um jesidische Belange bis in den Bundestag und das Umfeld der politischen Entscheidungsträger zu transportieren -, ist das Leben, beziehungsweise bleibt das Überleben vor Ort - als Individuum, wie auch in der Gemeinschaft - prekär.

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Das Ziel der Diaspora-Gemeinschaft scheint darauf angelegt, dass der Exodus der Glaubensbrüder- und Schwestern vollendet wird. Die Regierung in Erbil scheint sich hingegen damit arrangiert zu haben, dass jesidische Flüchtlinge in den UN-Lagern versorgt werden, ohne eine Integration in die Gesellschaft der autonomen Region Kurdistans zu forcieren.

Hinter vorgehaltener Hand wird auch darauf hingewiesen, dass unter der jesidischen Bevölkerung das Vertrauen zu der kurdischen Regierung zu stark gelitten habe, nachdem die Peschmerga die jesidische Zivilbevölkerung vor den anstürmenden Horden des IS 2014 im Sindschar-Gebirge schutzlos zurückgelassen hatten.

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Dieser Tage, an denen das Territorium und die militärische Potenz des IS zerschlagen wird, toben im Norden Syriens heftige Kämpfe. Die kläglichen Überreste des IS, der vor einigen Jahren noch ein Gebiet von der Größe Großbritanniens beherrschte, werden dort liquidiert. Doch zehntausende Jesiden gelten noch als verschollen, ihr Schicksal ist ungewiss.

So viel scheint aber sicher: je mehr das Herrschaftsgebiet des IS schrumpft, desto schneller sinken die Überlebenschancen der Geiseln. In Syrien werden dieser Tage Massengräber gefunden, wahrscheinlich handelt es sich um verschleppte Jesidinnen und Jesiden, so war es jedenfalls im Irak häufig, wie später festgestellt wurde, nachdem man die Überreste der Ermordeten identifiziert hatte.

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Vor dem Tempel bietet ein Mann, es handelt sich um einen der Bauarbeiter, welche den Tempel aktuell renovieren, Besuchern freundlich eine Tasse Tee an. Lalish befindet sich auf über 1000 Metern Höhe, umgeben von einer schönen Mittelgebirgslandschaft. Durch die Ortschaft Lalish bewegt man sich barfuß.

Es ist ein Wintertag, Ende 2018. Der Frühling hat noch nicht Einzug gehalten, bis zur drückenden Hitze des Sommers ist es noch einige Monate hin. Zwei Männer kommen die Straße herauf, bewegen sich langsam aber sicher auf den Tempel zu. Die Männer sprechen Kurmandschi, einer der drei kurdischen Idiome, die indoarische Sprache der Region, hier an der Grenze zum arabisch-semitischen Sprachraum.

Die beiden Männer sind nicht barfuß, sondern tragen teures Schuhwerk, ihre Aufmachung ist elegant. Bei einem der Männer handelt es sich um den Mann, den man den „Imker“ nennt. Jenen Mann, der Tausende von Jesiden aus der Gefangenschaft des IS freigekauft hat und selbst 56 Angehörige vermisst.

Auf die Spur des „Imkers" stößt der Reisende in der Region sehr häufig. Einige Tage zuvor beispielsweise, nach einer langen Fahrt durch Irakisch-Kurdistan, im Geländewagen und auf den Spuren des IS, in einem jesidischen Flüchtlingslager, welches von der UNHCR betrieben wird.

Diese Lager sind so groß wie kleine Städte bei uns und werden von ähnlich vielen Menschen bewohnt. Die meisten der Bewohner stammen aus der Region Sindschar, dem traditionellen Siedlungsgebiet der Jesiden. Diese Stadt und der gleichnamige Gebirgszug wurden als erste von den selbsternannten Gotteskriegern heimgesucht.

Über vier Jahre leben viele der Flüchtlinge schon dort und haben aus dem Asyl ein Provisorium gemacht. Die Zelte wirken wie kleine Häuschen, Geschäfte reihen sich an der Haupt-Durchgangsstraße, vom Schuster bis zum Friseur ist alles dabei. In einem Geschäft, welches sich in einem großen Zelt befindet, eher Depot als Verkaufsstand, versorgen sich die Bewohner mit Proviant.

Die Ankunft von Fremden auf der Durchreise sorgt für Aufsehen, zahlreiche Menschen, viele Jugendliche darunter, empfangen Besucher freundlich, überbringen Einladungen zum Tee, gemäß den Gesetzen der jesidischen Gastfreundschaft. Eine junge Frau war darunter, und sprach freundlich - wenn auch flankiert von großer Zurückhaltung - ihre Einladung aus.

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Die Frau hatte zuvor erwähnt, dass sie und zwei ihrer Schwestern jahrelang als Geiseln beim IS verbracht hatten. Ihre beiden Schwestern warteten vor einem großen Zelt. Gemeinsam mit ihrer Mutter und einem kleinen Bruder leben die Mädchen dort auf 23 Quadratmeter zusammengeschoben. Von Privatsphäre konnte keine Rede sein.

In einer dem Zelt angeschlossenen Holzhütte, offenbar von der UNHCR errichtet, befanden sich die sanitären Einrichtungen, eine Waschmaschine gab es auch. Das Zelt war mit mehreren Teppichen ausgelegt, ein Heizkörper verströmte mollige Wärme. Es herrschte peinliche Sauberkeit. Die Mutter begrüßte ihre Gäste.

Nachdem Tee und Gebäck gereicht wurde, die gegenseitige Vorstellung beendet war, berichten die Schwestern von ihrem jahrelangen Martyrium, dem Schicksal ihrer Familie, welches stellvertretend für das Schicksal ihrer Religionsgemeinschaft steht. Es sind Erzählungen, die das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Die Mädchen 21,18, und 14 Jahre alt, waren drei Jahre Sklavinnen beim IS, rund ein Jahr ist seit ihrer Befreiung vergangen. Drei weitere Schwestern befinden sich noch in den Händen des IS. Die jüngste der Schwestern berichtete, wie der IS 2014 in ihre Dörfer eindrang, nachdem die kurdischen Peschmerga fluchtartig die Front verlassen hatten. Sie war damals zehn, ihr Vater wurde vor ihren Augen ermordet, die Frauen und Mädchen des Ortes zusammengetrieben.

Während der dreijährigen Gefangenschaft wurde sie 20 Mal verheiratet. Heiraten bedeutet in diesem Fall, die Mädchen wurden als Sex-Sklavinnen wie eine Trophäe weitergereicht, bzw. verkauft. Immer wieder wurde das Mädchen vergewaltigt und auf Märkten weiterverkauft. Ihre Schwestern bestätigten ähnliche Erlebnisse. Einer ihrer „Besitzer“ verlangte, sie solle Koranverse auswendig lernen, was ihr kaum gelang, da sie damals noch kein Arabisch sprach, sondern nur Kurdisch. Zur Strafe musste sie hungern.

Als sie nach einem Jahr ihrer Schwester zufällig auf einem der Märkte begegnete, wurde sie von dieser zunächst nicht erkannt, so abgehungert sah sie aus. Die Schwestern erzählten, dass sie nicht mehr daran dachten, jemals frei zu kommen.

Die IS-Kämpfer behaupteten gegenüber den Gefangenen, dass der Islamische Staat die ganze Welt beherrsche, selbst New York City sei schon erobert worden, Flucht sei daher zwecklos.

Dieser Tage hatte die Familie die Rückkehr einer weiteren Schwester erhofft, sie sei aber bisher nicht eingetroffen, ihr Schicksal bleibt ungewiss, obwohl das Lösegeld schon bezahlt wurde. Nach mehreren Stunden, erzählte die Familie dann von dem Mann, der Geiseln aus der Haft freikauft, ja der sein Leben diesem Ziel geopfert habe.

Die Mädchen wurden freigekauft mit Hilfe des „Imkers“, der sich jetzt hier am Tempel verabredet hat, um Auskunft zu geben, über seine Vorgehensweise und Motivation. Abdullah, wie er sich nennt, bittet darum, ihm und seinen Bruder zu folgen. Im Wagen geht es ca. zehn Kilometer ins Tal, zu dem Haus eines Bekannten.

Der Weg führt durch eine schöne Siedlung, ein jesidisches Dorf, wie man an den Tempeln erkennt. Hinter dem Ort endet die Straße, die sich als ungepflasterter Pfad präsentiert. Vor den Häusern laufen Esel und Ziegen umher. Dann, vor dem größten Haus in der Siedlung, einem aus vier Etagen bestehenden Gebäude, hält unser Wagen.

Ein junger Mann im Anzug, offenbar ein Bodyguard, öffnet die Pforte. Sein Blick gleitet über die Gäste hinweg, er fixiert die nähere Umgebung mit kaltem Blick, als würde irgendwo ein Heckenschütze lauern. Er führt die Gäste ins Haus, der Revolver an seiner Gürtelschnalle ist nicht zu übersehen. Im hinteren Zimmer nehmen wir auf einer langen Ledercouch Platz. Milde lächelnd begrüßt der „Imker“ seine Gäste noch einmal offiziell, während ein Bediensteter Tee und Zigaretten reicht. Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, der Imker meidet die Öffentlichkeit wo es geht, nimmt er sich knapp zwei Stunden Zeit.

Vor einigen Jahren widmete die irakische Journalistin Dunya Mikhail dem „Imker“ ein Buch unter dem Titel: “The Beekeeper: Rescuing the Stolen Women of Iraq”.

Was die Motivation angehe, für seine gefährliche Tätigkeit, so liege diese in der Tatsache begründet, dass er selbst noch 56 Angehörige vermisse, beziehungsweise, diese an den IS verloren hat, berichtet er freimütig, während sein Bruder schweigend auf sein Smartphone schaut.

Tausende von Jesiden werden noch vermisst, einige Hundert habe er bisher freikaufen können. Wie diese Transaktion genau von statten gehen, das könne er nicht im Detail erläutern, aus Gründen der Sicherheit. Man habe bisher mit Freiwilligen gearbeitet, die sich in die verbliebenen IS-Gebiete einschmuggeln ließen, dort beispielsweise Bäckereien eröffneten, denn im Rest-IS herrsche Hungersnot.

So kommt man mit er Bevölkerung ins Gespräch, erfährt, wo und wie viele Geiseln leben, dann regelt man vieles mit Geld. Geld das aus eigenen Quellen stammt, aber überwiegend von Spenden aus der jesidischen Diaspora. Die Jesiden erleben einen Völkermord, einen kulturellen und demographischen, führt er aus.

Das Schicksal der drei Mädchen, jener Schwestern, die Sie im Flüchtlingslager kennengelernt haben, steht stellvertretend für das Schicksal der Jesiden. Ja, die Mädchen sind frei, aber was für ein Leben bleibt ihnen, wo sie als Kinder und Jugendliche geschändet und missbraucht wurden?

Auf die Frage, ob der IS schon besiegt sei, schüttelt er mit dem Kopf.

Ich möchte mich keineswegs an Spekulationen beteiligen, wer oder was den Aufstand des Islamischen Staates begünstigt hat, aber so viel ist sicher: ohne die massive Aufrüstung Saudi-Arabiens, durch den Westen, besonders die USA, hätte es dieses Kalifat nie gegeben.

Der „Imker“ geht davon aus, dass er noch lange nicht in seinen Beruf als Bienenzüchter zurückkehren kann, obwohl dieser ihm Wohlstand und Prestige verschaffte.

Möglichweise muss ich mich mein Leben lang um die Rettung meines Volkes bemühen, denn das Schicksal von uns Jesiden droht vergessen zu werden. Wir haben weder einen Staat noch ein Rückzugsgebiet, wir haben nur uns. Die Zukunft der Jesiden im Nordirak bleibt ungewiss

sagt er zum Abschied.

„Was bedeutet das konkret für mich!?“

Bei diesen Zeilen handelt es sich um einen persönlichen Erlebnisbericht, wobei es schwer zu schildern ist, was ich alles auf dieser Reise im Winter 2018 im Nordirak zu sehen bekam. Im Juni 2014 rief der Anführer des sogenannten Islamischen Staates (IS), Abu Bakr Al-Baghdadi, in der irakischen Stadt Mossul ein neues „Kalifat“ aus. Die Jesiden reden seitdem vom 74. Genozid an ihnen in ihrer Geschichte. Die Katastrophe der Jesiden war auch eine Spätfolge des "Kriegs gegen den Terror", beziehungsweise dessen katastrophale Ausführung durch die USA und ihre Verbündeten. Es wird den Bürgern des Westens nicht erspart bleiben, ihre Politiker dazu aufzufordern, aktiv an der Beseitigung oder Verhinderung einer Wiederholung dieser Missstände zu arbeiten. Welt-Außenpolitik ist schon lange Welt-Innenpolitik geworden.

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